Hinter den sieben Bergen

Südtirol, Vinschgau, Kastelbell, Flatschhof. Alles wie im Sommer davor. Aber irgendwie anders. Diesmal sind wir vier Familien aus Düsseldorf. Mit sieben Kindern nehmen wir den gesamten Hof in Beschlag – und steigen noch einmal tiefer in die Bergwelt oberhalb der 1400 Meter ein. Dort, wo die Kinder der Bergbauern weder Radfahren noch Schwimmen lernen.  

 

Die beiden Wochen boten eine ganze Erlebnis-Palette: Rafting auf der Etsch. Den 3000er-Berg Vermoi besteigen und sich auf dem Weg dahin komplett verzetteln. Flugschau mit Falken, Geiern und Adlern. Besuch Schloss Tirol und Ötzi-Museum nahe der Fundstelle.

 

Tiere nehmen in diesen zwei Wochen einen besonderen Platz ein. Wölfe hausen im oberen Teil der Berge, auf der anderen Seite des Tals soll ein Bär gesichtet worden sein. Auf unseren Wanderungen sehen wir eine Viper, weiter oben ein Murmeltier. Ein Tier-Erlebnis ist etwas spezieller: Ein Anbieter arrangiert Bergwandern mit Lamas. Kein Scherz. Auf seiner Internetseite nennt er Lamas die „Delfine der Wiese“. Die Skepsis steigt. Die Kinder haben Wind von der Idee bekommen, es gibt kein Zurück. Tage später gehen wir tatsächlich mit Lamas an der Leine in den Alpen spazieren. Auch wenn uns dort kein Mensch kennt, aber: Hoffentlich sieht uns niemand. Die Kinder sind hin und weg. Für andere fühlt sich das so authentisch an wie mit einem Pinguin durch die Wüste Gobi zu watscheln.

 

Kennzeichnend für die zwei Wochen waren aber Klima und Klimawandel. Wir sehen während unserer Wanderungen, dass der nackte Fels immer häufiger wie eine Kniescheibe durch den Waldboden drückt. Die Kiefern dürsten. Trockenheit macht es dem Borkenkäfer leicht, ganzen Schlägen den Rest zu geben. Auch die steilen Wiesen trocknen aus. Um wirtschaftlich zu überleben, müssen die Heubauern vier Mal im Jahr ernten. Dazu verteilen die Bauern das Schmelz- und Niederschlagswasser aus dem Berg. Unser Gastgeber berichtet, wie die Bauern immer häufiger ums knapper werdende Wasser streiten. Und er erzählt davon, wie das Klima den Bergen immer mehr zusetzt. Da kannst du so viele Studien lesen, wie du willst. Wenn dir die Menschen aus den Bergen erzählen, wie der Klimawandel ihren Lebensraum bedroht, dann geht das tiefer unter die Haut. Irgendwie kriecht das Gefühl in einen herein, so wie es ist alles zum letzten Mal zu sehen. Besser wird hier nichts mehr.

 

Dann folgt Klimawandel Teil 2: Während unseres Urlaubs tobt zu Hause das Jahrhundert-Hochwasser des Sommers 2021. Wir treffen Freunde aus der Eifel. Sie zeigen uns Videos, wie das Hochwasser durch Bad Münstereifel rauscht und den Menschen alles nimmt. Auch weite Teile Düsseldorfs stehen unter Wasser. Wir sind fassungslos.

 

Zurück auf den Berghof. Der hat eine Backstube. Einmal im Monat werden darin 500 Vinschgauer Brötchen gebacken - für die Gäste und die Bäckereien im Tal. Vinschgauer, das sind dort Minibrote, fest und nicht ganz so platt wir die Hafer-Cookies von Starbucks. Samstag ist Backtag. Und Markus darf mitmachen. Was für eine Vorfreude. Alles ist vorbereitet. Und dann die Enttäuschung. Die Schwiegermutter vom Hof bläst den Backtag ab. Grund: Im Vinschgau wird nach dem Mondkalender gebacken. Am diesem Samstag steht der Mond im Tierkreiszeichen Wassermann. Schlecht fürs Brot. Im ersten Moment sind wir uns nicht sicher, ob wir das noch ernst nehmen können. Backen laut Mondkalender? Echt jetzt?

 

Natürlich wurde das Backen nachgeholt. Was für ein Fest, vier Stunden lang bei krachender Tiroler Volks- und Schlagermusik knetend in der heißen Backstube. Die Brote geraten prächtig. Kein Wunder. Der Mondkalender stand im Zeichen des Feuerkreises. Gut fürs Brot.

 

Fortan machen wir Scherze über den Mondkalender. Später im Ötzi-Museum sind dem Vinschgauer Brot mit seiner mehr als 1000jährigen Tradition mehrere Ausstellungstafeln gewidmet. Hochglanz-Bilder von der althergebrachten Knusperkrume. Der Text dazu: „Die Vinschgauer backen das Brot seit Jahrhunderten in Anlehnung an den Mondkalender.“ So ist das also schon immer gewesen, und so wird es hoffentlich bleiben. Auch wenn sich unsere Welt radikal verändert. Auch wenn viele Menschen dabei die Orientierung verlieren und fundamentalistisch werden. Nicht hier im Vinschgau Die Menschen haben ihr Fundament.

 

Am Fuß unseres Berges liegt ein Weingut, das Köfelgut. Wie wär’s mit einer Weinprobe auf unserer grandiosen Terrasse? Schon Wochen vor unserer Anreise versuchen wir das per E-Mail einzufädeln. Uns es klappt. Der Winzer kommt mit großer Auswahl seiner wirklich guten Tropfen. Was für ein Fest. Aber auch eine Gelegenheit, mit den Südtirolern ins Gespräch zu kommen. Darüber, wie es sich in Italien als Südtiroler so lebt. Was wir als Frotzelei der Südtiroler gegenüber den Italienern schon oft gehört haben, ist in Wirklichkeit eine Kluft. Sie fühlen sich in Italien benachteiligt, weil sie sich an Regeln halten, Steuern zahlen und diese auch erwirtschaften. Wir hören Geschichten aus italienischen Krankenhäusern, wo die Südtiroler schlechter behandelt werden, weil sie sich nicht einwandfrei italienisch artikulieren können. Die Abgrenzung erfolgt auch gegenseitig. Die Kinder lernen in der Grundschule ein bis maximal zwei Schulstunden in der Woche italienisch. Soviel zum Interesse an der Landessprache.

 

Der Beweis folgt am Wochenende. Italien wird Fußball-Europameister. Das Land rastet aus. In unserem Düsseldorfer Stadtteil Gerresheim, wo eine große italienische Gemeinde gibt, muss die Polizei auf der Heyestraße einschreiten, da die Siegesfeier aus dem Ruder läuft. Und hier im italienischen Südtirol? Grabesstille. Kein Jubelschrei, keine Autohupe, kein Böller, nicht ein einziges Raketchen verirrt sich in den Nachthimmel. Wir hörend nur die Etsch im Tal plätschern. Italien ist Fußball-Europameister. Na und?

      

Ein Südtiroler Original treffen wir auf der 2.000 Meter hohen Stierbergalm. Sepp, der Wirt, fristet sein Leben allein auf der kargen Alm. Schmerbauch, aufgedunsen gerötetes Gesicht. Er ist so eloquent wie die Wachsoldaten vor Schloss Windsor. Bei der Frage, was es zu trinken gibt, zeigt er auf seinen Kühlschrank. Als die Mannschaft Mittagessen bestellen will, legt er uns einen Block hin, damit wir alles aufschreiben. Per Zufall entdecken wir das Lager seiner selbst angesetzten Schnäpse und kommen uns bei Destillaten aus Haselnuss, Enzian und Schafsgabe doch noch näher. Am Ende ist er so beschwingt, dass er Plastikflaschen mit seinen Vorräten befüllt und uns mitgibt. Wir fragen nach der Rechnung. Dass der Sepp sich nun 15 Bestellungen zusammenrechnet – keine Chance. Seine knappe Aufforderung. „Ja zahlt’s halt was.“ Selten hatte Geld so wenig Bedeutung wie in diesem Moment. 


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