Vietnam

Grüne Hölle

Es ist Sonntag, wir starten von DaLat in Richtung Regenwald. Unterwegs sehen wir ein dutzend Hochzeitsfeiern. Ein guter Tag zum Heiraten. In Vietnam legen allein die Eltern fest, an welchen Tag die Hochzeit stattfindet, denn nur sie wissen, welcher Tag ein guter Tag ist. Hochzeit ist eine große Sache, da auch der letzte entfernte Verwandte einzuladen ist. Dan hatte uns erzählt, dass er little Buddha im Jahr 2014 heiraten wird. Die Gästezahl hatte er schon einmal locker überschlagen. Er kam auf 600.

 

Nach einer regelrechten Irrfahrt über vietnamesische Feldwege endet die Straße abrupt an einem Fluss. Aussteigen. Ein Boot tuckert uns zum anderen Ufer. Als wir den Fuß von der Fähre auf die andere Seite des Ufers setzen, verlassen wir die Zivilisation und betreten eine eigene Welt, den Dschungel. Der Ranger aus dem Nationalpark, der uns durch den Dschungel führen wird, tunkt bei unserer Ankunft zwei Paar Stulpen mit einem Gel ein. Diese Strümpfe sind in den Schuhen und über der Hose zu tragen. Lange Hosen und Ärmel sind Pflicht. Grund: Hier wimmelt es von Blutsaugern.

 

Wir brechen auf zu unserem Ziel, dem Krokodilsee, inmitten des Urwalds. Die ersten zehn Kilometer fahren wir auf der Ladefläche eines zerknautschten Pickups. Die Piste besteht aus Schlamm und Schotter, wir durchqueren einen Fluss, warmer Wind weht uns ins Gesicht, die Sonne breitet ihren Untergang vor. Die Szene könnte dem Sonntagabend-Film im ZDF entliehen sein, wo die Menschen zuerst die Natur und dann sich selbst finden. Doch unser Drehbuch sollte noch einige Wendungen vorsehen.

 

Wir schultern unsere Rucksäcke und marschieren die letzten fünf Kilometer noch tiefer in den Dschungel. Wir sehen Termiten bei ihrer zerstörerischen Arbeit, Affen, wie sie sich von Baum zu Baum hangeln, Riesenbäume mit Wurzeln, die uns überragen und smaragdgrün leuchtende Blätter groß wie aufgespannte Portierschirme. Plötzlich macht es plopp, plopp, plopp. Es beginnt zu regnen, Sekunden später gießt es aus Kübeln. Wir können unsere Regencapes nicht so rasch anziehen, wie wir bis auf die Knochen durchgeweicht sind. Auf unserem schmalen Pfad bildet sich erst ein Rinnsal, aus dem sich ein kleiner Bachlauf entwickelt. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir unser Ziel am Krokodilsee: Die Station besteht aus drei primitiven Holzhütten auf Stelzen mit Bambusdach. Alles ist über Brücken miteinander verbunden. In der Mitte ist eine Art Holzhaus mit Ausguck auf den See. Dort treffen wir auch auf ein anderes Paar aus Dänemark sowie drei Einheimische.

 

Als wir Schuhe und Schutzstrümpfe ausziehen wollen, läuft uns ein kalter Schauer den Rücken herunter. Dort, wo Schnürsenkel sind, kringelt sich auf jedem Schuh ein Knäuel von Blutegeln. Es scheint, als lebten die Schuhe. Alles krümmt sich wie in einer Schlangengrube, die Tiere wollen sich durch das Leder zum Fuß bohren. Andere Blutsauger machen sich auf den Weg hoch zum Knie. Abschütteln funktioniert nicht, die Viecher haben sich festgebissen. Mit Hilfe des Rangers befreien wir uns von unserem Schuhwerk - mit dem Ergebnis, dass die Blutsauger nun auch in unsere Schuhe hineinkriechen. Der Führer mit rund 30 Jahren Erfahrung im Dschungel ist ob der Fülle der Blutegelattacke auch etwas verwundert und greift zum äußersten Mittel. Er knüllt Papier zusammen, zündet es an und behandelt unsere Schuhe innen und außen mit dieser Fackel. Nicht nur Parasiten werden ausgeräuchert und verschmort, unsere Schuhe auch. In diesem Moment ist das egal, wir wollen die Dinger loswerden. Nach dem Essen leuchten wir mit einer Taschenlampe auf den See. Immer wieder reflektieren Augenpaare von der Wasseroberfläche. So, als würden wir von allen Seiten beobachtet. In fünf Metern Entfernung von uns sichten wir ein Babykrokodil. Das drei Meter lange Muttertier lauert kurz dahinter.

 

Abends beziehen wir unsere feuchte Matratze im Stelzenhaus und übernachten dort mit Fledermäusen, Geckos, Spinnen, Blutegeln, Moskitos und Flattergetier, das wir nie zuvor gesehen haben. Die Hütte hat zwar vier Wände, ein Giebel aber ist nach außen offen. Es fühlt sich an, als stünde unser Bett direkt im Dschungel. Grillen und andere Tiere geben ein Konzert, es donnert und blitzt, Regen prasselt auf unser Bambusdach. So abgeschnitten von der Welt haben wir uns noch nie gefühlt. Es ist stockdunkel; wir liegen unter dem Moskitonetz und hören, wie der Regenwald zum Leben erwacht. Die Krokodile werden aktiv und jagen. Die Fledermäuse, die unter der Decke hängen, flattern munter raus und rein. Wir hören, wie etwas an unseren Rucksäcken nestelt, wie etwas anderes über das Bambusdach huscht. Den größten Schreck jagt uns mitten in der Nacht ein Gecko ein, der plötzlich auf dem Kopfteil unseres Bettes sitzt. Das Tier, das im Urwald die Größe einer Salatgurke mit Beinen erreicht, veranstaltet direkt über uns einen klagenden Höllenlärm. Kerstin macht in der gesamten Nacht kein Auge zu. Markus stellt sich vor, nunmehr ebenfalls ein Bestandteil dieser Dschungelwelt zu sein, und schläft ein.

 

Am nächsten Morgen beobachten wir die Krokodile bei der aufgehenden Sonne und machen uns nach dem Suppenfrühstück bereit für den Rückweg. Doch die Schuhe sind wieder voller Blutegel. Kerstin hat die Nase endgültig voll und rückt dem Getier mit dem Besen zuleibe. Dabei beobachtet sie, dass die Blutsauger regelrecht springen können. Unser Führer fummelt die letzten Tiere aus dem Inneren der Schuhe und trägt das Abwehrgel mit einer Zahnbürste auf. Widerwillig ziehen wir die Sachen an und machen uns auf den Rückweg durch den Dschungel. Wir kämpfen uns durch den schmalen Pfad voran. Durch den Regen in der Nacht ist die Luftfeuchtigkeit unerträglich hoch. Als uns ein umgestürzter Baum den Weg versperrt, gehen wir einen kurzen Umweg durch die dicht bewachsene Vegetation. Wenn unmittelbar jemand vor uns stünde, wir würden ihn nicht sehen. Kein Wunder, das die GIs im Vietnamkrieg von einer grünen Hölle gesprochen haben. Die Gedanken beginnen zu wandern. Wie verängstigt müssen sich die Soldaten in dieser extrem fremden und bedrohlichen Umgebung gefühlt haben? Wie hilflos und brutal ist die Maßnahme, tonnenweise dioxingeträngtes Agent Orange über den Urwald zu versprühen, um die Wälder zu entlauben? Auch der Dschungel von Cat Tien war Kampfgebiet und wurde in Teilen durch Agent Orange vernichtet. Heute scheint das Thema weit weg zu sein. Doch in Kürze werden wir damit voll konfrontiert.

 

Weiter zu "Schmerzhafte Geschichte"