Über den Wolken

Unser erstes Ziel ist ein Bergbauernhof an einem der steilen Hänge im Vinschgau, oberhalb von Kastelbell in Südtirol und 1.400 Meter über dem Meeresspiegel. Mit Blick auf die gewaltigen Bergmassive sagen wir während der Anfahrt durch Kastelbell noch: „Schau mal, da ganz oben stehen tatsächlich noch Häuser!“ Wir ahnen noch nicht, dass wir genau dahin müssen. 

 

Die letzten sieben Kilometer Bergstraße dauern noch einmal 30 Minuten, immer mit einem Reifen am Abgrund, so eng sind die Serpentinen. Die Kinder schreien. Jede Kurve ein Stoßgebet "Bitte kein Gegenverkehr!" Oben angekommen, betreten wir eine eigene Welt. Überall, wo die Geologie es erlaubte, wurden in den Jahrhunderten kleine Höfe errichtet. Sprenkel im Berg, die mehrere Kilometer voneinander entfernt liegen. Unser Ziel liegt fast ganz oben. Ein Stück weiter straßauf kommt noch ein Hof, danach die Vegetationsgrenze. Wir sind fast die einzigen Touristen.

 

Die althergebrachte Arbeitsteilung der Berghöfe gibt es noch heute. Der eine Hof backt Brote, ein anderer hält Vieh und schlachtet, der nächste macht Milch und Käse, noch einer unterhält eine Schankwirtschaft. Heubauern sind sie alle noch. So kennt es der Landstrich. Jahrhunderte hat man sich geholfen und getauscht, um den schweren Weg ins Tal und zurück nur in Ausnahmefällen antreten zu müssen. Erst Ende der 70er Jahre wurde überhaupt eine Straße in diesen Berg gebaut. Die Höfe bekamen Anschluss an die Welt. Mit der Straße kam der Schulbus. Mit dem Schulbus neue Möglichkeiten für Bildung der Kinder.

 

Die erste Generation Schulbus ist nun unser Gastgeber. Miriam und Martin ging es nicht mehr nur darum, den Hof weiter zu vererben, sondern sie haben ein Business aufgezogen und in den Tourismus investiert. Das ursprüngliche kleine Bauernhaus wurde in ein Chalet verwandelt. Wir teilen uns das Berghaus mit unseren Freuden und leben zusammen als große Einsiedlerfamilie. 

Allein die Terrasse war die Reise wert. Gewaltige Bergformationen, Blicke in endlose Täler und auf schneebedeckte Bergspitzen. Kleine wattige Wolkenformationen ziehen an uns vorbei, wir begrüßen sie mit Handschlag. Am Abend, wenn die Sterne ganz nah sind, hören wir nur noch die Etsch im Tal plätschern. Es scheint, als sei die Welt um diese Terrasse herum erfunden worden.

 

Und es wird noch kitschiger: Auf unseren Wanderungen durch die Berge sehen wir Landschaften und Orte, die nichts anderes sind als eine Kreuzung aus Heimatfilm und Modelleisenbahn. Das gibt es alles wirklich. Auch das Essen in den beiden Gasthöfen Niedermair und Platzmair oben erfüllt alle Klischees. Deftig, aber von dort. Von der abendlichen Reservierung kann uns auch die Schafsgabe nicht abhalten - obwohl bis zum Ende nicht ganz klar war, ob tatsächlich ein Schnaps serviert wurde oder eine etwas zu flüssig geratene Handseife.

 

Wir wussten es vorher, staunen dann aber doch: Alles ist bis heute deutsch geblieben. Die Top News im Radio behandeln zuerst Themen aus Deutschland, am Ende kommt mal etwas aus Italien. Ortsschilder, Straßen, die Namen der Bratwürste beim Metzger – alles deutsch. Als wir unsere Gastgeberin nach einem Kartenspiel fragen, bekommen wir das alte deutsche Skatblatt.

 

Der beste Urlaub nutzt nichts, wenn die Kinder unzufrieden sind. Der Bauernhof lässt hier keinen Wunsch offen. Von unseren Kindern bekommen Hasen, Hühner und Meerschweinchen ein Maß an Zuneigung, das für einen ganzen Streichelzoo gereicht hätte. Wir sammeln nebenbei Wachteleier ein und kochen sie. Im zweiten Anlauf haben wir es raus: drei Minuten.

 

Wir erleben auch das Gegenteil von Streichelzoo. Plötzlich bringt Miriam ihre Hühner in Sicherheit und schaut sorgenvoll zum Himmel. „Was ist los?“ Über dem Hof kreisen drei Geier. Und abends sollen wir nicht mehr durch das nahe Wäldchen gehen. Wölfe. Es ist die Natur, die hier den Rhythmus vorgibt. Die Natur erfasst auch unsere Kinder: Sonst eher bewegungsfaul sind sie wie selbstverständlich Teil unserer kleinen Wandergruppe geworden. Auf dem Weg zur Seilbahn oder zu Mauerresten einer versteckten Ruine, auf der Suche nach wilden Erdbeeren oder versteckten Tieren wird jede Tour zu einem echten Erlebnis - für Groß und Klein.

  

Das alles hat uns berührt. Über den Wolken - muss die Freiheit wohl grenzenlos sein... und wonach sehnt man sich mehr in Zeiten von Einschränkungen als ein kleines bisschen Freiheit und heile Welt?  Wir machen das, was uns vorher noch nie passiert ist: Für nächsten Sommer haben wir den gleichen Urlaub wieder gebucht. 

 

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