Anna und Elsa live

Mit der Individualität ist es nach der nächsten Etappe vorbei. Der Campingplatz bei Paris liegt inmitten eines riesigen Freizeitareals. Um uns herum die große Leere: Parkplätze, Schotterberge, Reitplätze, ein künstlicher See. Schon unsere Ankunft ist kein gutes Omen. Kaum haben wir auf unserem Platz eingeparkt, öffnen wir die Tür und ein schreiende Kind fällt aus dem Wagen. Noch dazu hört man die Flugzeuge, die Charles de Gaulle ansteuern oder verlassen. Noch etwas fällt auf: Wie zuvor ist der gesamte Platz überwiegend mit Holländern besetzt. Es scheint, als seien die Niederlande entvölkert. Wir fragen uns, ob die Menschen vor einer Hungerkatastrophe fliehen oder ob der Staat überschwemmt wurde. Aber nichts dergleichen. Es muss andere Gründe geben, warum man da nicht sein will.

 

So geht es in den ersten Abend. Um der Tristesse zu entfliehen, mache ich mir ein französisches Bier auf. Hatte mich mit belgischen und französischen Spezialbieren eingedeckt. Doch bäh, was für ein Geschmack? Das Etikett sagt: bière aux cerises. Kirschbier. Auch das noch. Wenigstens ein paar Brocken französisch hätten beim Bierkauf geholfen. So sitze ich da auf einem mäßig schönen Campingplatz, umgeben von Parkplätzen, umzingelt von Holländern, mit Fluglärm, schreienden Kindern – und Kirschbier. Super. Ein Vorteil macht den Pariser Platz aber unschlagbar: Vor dem Eingang hält der Linienbus. Für 2,80 Euro pro Person fährt man direkt ins Disneyland.

 

Da sind wir dann, in Western- oder Spaceworld und Adventure- oder Märchenland. Kerstin kennt sich aus, so dass wir kindgerecht durch Pinocchios Italien und Peter Pans London gondeln. Und im strömenden Regen mit Kindern huckepack Anna und Elsa vom Paradewagen (mit Überdach) lächeln sehen. Schneemann Olaf tänzelnd triefend nass (aber nicht weniger lächelnd) vor dem Wagen hin und her. Trotz kühler Temperaturen und zeitweisen Nieselregen ist es voll, die Wartezeiten an den Attraktionen für Ein-Meter-Kinder halten sich in Grenzen. Egal, was man von Disney-Figuren hält, die aus einem Guss erdachten Welten sind beeindruckend. Unsere Furcht, dass die Kinder Opfer von Reizüberflutung werden, bleibt bis zum Ende unbegründet. Nur auf den letzten Metern ist es dann doch zu viel für die kleinen Mäuse.

 

Kurz vor der Heimfahrt wollen wir doch noch einmal etwas mehr erleben und mit einem Westernzug-Rollercoaster durch Berg, Tal und Tunnel rasen. Und Leyla? Mindestgröße ist 1,04 m. Die bringt sie gerade mit, allerdings als viel zu große Zweijährige. Wartezeit mindestens 45 Minuten, auch das nehmen wir in Kauf. Kurz vor dem Ziel nach 40 Minuten Schlange stehen dann: technischer Defekt. Nichts geht mehr. Zum Trost bekommen wir eine Art VIP-Ticket für den nächsten Tag. Direkter Zugang, ohne Anstehen.

 

Später, die Bahn fährt wieder, versuchen wir es noch einmal. Und es klappt: Familie Nitschke geschlossen im Westernexpress. Es ist dann wirklich rasend schnell, laut, kurvig, hell und dunkel. Es gibt Momente, da wird auch den Eltern mulmig. Wir rauschen wieder in den Bahnhof und stehen. Lucy hat sich so am Bügel festgekrallt, so dass ihre Handknöchel weiß sind. Aber sie ruft euphorisch: „Nochmal“! Leyla bleibt nach der Fahrt wie paralysiert sitzen, starrt unverändert nach vorne. Kein Ton kam während der Fahrt. Dann nach einer langen stillen Minute: „War gut. Aber nicht noch mal.“ Zum Abschluss des Tages stehen wir um 22:30 Uhr vor einem grandiosen Spektakel aus Licht, Lasern, Feuerwerk, Wasserfontänen und Musik. Trotz schwerer Augen starrt Lucy auf die meterhohen Anna und Elsa Lichtfiguren am Disneyschloss. Nur Leyla ist schon sanft zu Tinkerbell ins Träumeland entschwunden.

 

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