Vietnam

Im fruchtbaren Land

Von Saigon fahren wir weiter in Süden in das Mekong Delta. Während unserer gesamten Tour haben uns immer wieder die mächtigen Flüsse beeindruckt. So etwas wie Rhein oder Elbe wäre hier nur eine durchschnittliche Nummer. Das Mekong Delta übertrifft noch einmal alles, was wir bislang gesehen haben. Der Strom ist so breit, dass die Fahrt mit dem Auto über die Brücke länger als drei Minuten dauert. Das ist längst nicht alles. Ein Landstrich so groß wie das Saarland besteht nur aus Nebenarmen des Flusses sowie inselartigen Landstrichen dazwischen. Bei den Reisfeldern ist oft nicht zu unterscheiden, ob es sich um Fluss oder Land handelt. Das Boot nutzen die Einheimischen als natürliches Fortbewegungsmittel.

 

Zwei Tage sind wir auf den Wasserstraßen dieser eigenen, speziellen Welt unterwegs und leben gemeinsam mit den Menschen am Fluss. Dabei lernen wir neben den romantischen Facetten auch die Schattenseiten kennen. So wissen wir, dass die Einwohner ihre Fäkalien unbehandelt in den Fluss leiten. Als wir morgens um sechs Uhr mit dem Boot unterwegs sind, sehen wir die Menschen aber ebenso sich im Fluss waschen und die Zähne putzen. Eine Müllabfuhr gibt es nicht. Der Abfall wird verbrannt - oder in den Fluss geworfen.

 

Eine Attraktion sind die schwimmenden Märkte. Das gesamte System von Kaufen und Verkaufen spielt sich jeden Morgen auf dem Wasser ab. So tuckern wir zwischen einer ganzen Armee von Booten hindurch, die vollgepackt sind mit Ananas, Bananen, Melonen oder Ingwer. Boot an Boot werden die Geschäfte abgewickelt und die Einkäufe umgeladen. Überall begegnen uns ausschließlich kleine und mittelgroße Holzboote. Größere Frachtschiffe oder irgendwelche modernen Formen westlicher Prägung fehlen völlig. Obwohl ein belebtes Markttreiben herrscht, liegt über der gesamten Szene doch eine ausgeglichene Ruhe. Wir sind ebenfalls in einem kleinen Holzboot unterwegs. Es ist an mehreren Stellen so löchrig, dass der Fluss förmlich hinein sprudelt. Unserem Bootsführer macht das nichts. An zwei Stellen fährt er ans Ufer, schickt uns raus, löffelt das Wasser mit einem kleinen Eimer aus dem Boot und weiter geht's. Auch das ist Vietnam. Was einmal kaputt ist, bleibt es auch.

 

Allerdings verlieren die schwimmenden Märkte immer mehr an Bedeutung. Mittlerweile kann sich auch der kleine Reisbauer ein Moped leisten. Immer mehr wird auch diesem Wege abgewickelt. Dies ist ein Ergebnis eines unglaublichen Wirtschaftswachstums in den vergangenen zehn Jahren. Gab es in den 80er Jahren noch regelrechte Hungersnöte nach Missernten, so ist besonders die Wirtschaft jetzt soweit entwickelt, dass mit drei bis vier Reisernten im Jahr Vietnam weltweit der zweitgrößte Reisexporteur und der größte Kaffeeexporteur ist. Im Alltagsleben schlägt sich das beispielhaft so nieder, dass es praktisch keinen bewohnten Flecken ohne W-Lan gibt. Die Abdeckung ist um ein vielfaches höher als in Deutschland.

 

Vor lauter Marktwirtschaft und Wohlstand gerät fast in Vergessenheit, dass Vietnam noch immer von einem sozialistischen Ein-Parteien-Regime regiert wird. Mag es auch nichtstaatliche Medien geben, eines gibt es nicht: kritische Äußerungen über Staat oder Partei. Das ist ähnlich gefährlich wie in China. Erst seit kurzem können in Vietnam Computer gekauft werden, in denen die IP-Adresse etwa von Facebook nicht gesperrt ist. Es gibt zahlreiche Filme, die in Vietnam verboten sind.

 

Für die beiden Übernachtungen ist Kerstin wie bei allen anderen Hotels nicht den Vorschlägen der Agentur gefolgt, sondern hat individuell etwas ausgesucht. Unser Guide hat jeweils die Aufgabe, uns dort hinzubringen. Im Fall des Mekong Deltas haben wir uns für ein Homestay entschieden, was bedeutet, in einer mehr oder minder privaten, aber auf jeden Fall einfachen Unterkunft zu wohnen. Als Thien mit unserem Homestay telefoniert und uns ankündigt, hören wir immer ein oh, oh, oh. Grund: Das Homestay kann mit dem Auto gar nicht erreicht werden. Wir biegen von der Straße ab, der Weg wird schmaler, die Zivilisation weniger und die Pflanzen dichter. Unsere Blicke werden nachdenklich. Was erwartet uns? Thien muss immer wieder lachen. Wir meinen, auch etwas Schadenfreude herauszuhören nach dem Motto: "Hättet ihr das von der Agentur empfohlene Hotel in der Stadt genommen, dann wäre euch das hier erspart geblieben."

 

Die Situation gewinnt weiter an Skurrilität. Am Treffpunkt mit dem Hotel stehen wir nun mit unseren beiden großen Koffern und den Rucksäcken an einer Brücke. Irgendwann kommt eine zierliche Frau mit einem Motorroller aus den Büschen gefahren und will unsere Koffer aufladen. So wird es auch gemacht. Wir schultern unsere Rucksäcke und gehen runter zum Fluss, den schmalen Pfad entlang zu unserem Homestay. Thien will sich den Augenblick unserer Ankunft nicht entgehen lassen und kommt mit. Dann die Auflösung. Nach einem halben Kilometer erreichen wir eine kleine Anlage mit fünf - na ja - Appartements, die über einen Holzweg und ein Brücken zu erreichen sind. Alles ist malerisch schlicht angelegt. Bambuswände, Bambusdach und Bambusmöbel. Es herrscht absolute Ruhe, nur die Tiere sind zu hören, ab und zu tuckert ein Boot den Fluss entlang. Bananenbäume und Mandarinensträucher wachsen wild wie Unkraut. Es ist malerisch. Wieder sind wir abgeschnitten von der Außenwelt, empfinden diesmal aber so etwas wie Geborgenheit. Thien ist wieder kleinlaut geworden. Wir erfahren, dass unser Homestay ebenfalls Bootstouren zu den schwimmenden Märkten anbietet und verzichten von nun an gern auf die Dienste unseres Führers.

 

Neben verschiedenen Bootstouren durch das Mekong Delta unternimmt unsere Gastgeberin mit uns auch eine Radtour zu den Menschen im Dorf. Eigentlich dachten wir, dass wir nach drei Wochen in Vietnam schon einen ganz guten Eindruck von den Menschen gewonnen haben. Doch während der Radtour kommen wir mit der Gastgeberin ins Gespräch und sammeln noch einmal intime Eindrücke von einem Land im Umbruch. Etwa beim Kindergarten, der dadurch auffällt, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen zu sehen sind. Das liegt daran, dass Mädchen auf dem Land nicht viel wert sind. Nach der Hochzeit zieht das Paar in das Haus der Familie des Mannes. In einem Land ohne Rentenversicherung hängt das Auskommen im Alter wesentlich von den Kindern im Haus ab. Als Folge werden Mädchen vielfach abgetrieben. An einer Pagode lernen wir Kinder kennen, die nicht abgetrieben wurden, die aber keine Zukunft in einer Familie haben. Die Babys werden nachts anonym vor das Tor der Pagode gelegt. Meist sind es alleinstehende Mütter, die ohne jede soziale Absicherung nicht in der Lage sind, ein Kind allein groß zu ziehen.

Im Abstand von 50 Metern stehen entlang des Flusses Pfähle mit Lautsprechern dran. Merkwürdig. Doch hier bei den einfachen Menschen, deren Häuser auf Stelzen in das Wasser ragen, gibt es weder Fernsehen, Radio oder Internet. Wenn Partei oder Staat etwas Wichtiges mitzuteilen haben, tönen die Mekong-News morgens um sieben Uhr vom Holzpfahl.

 

Weitere Ziele sind eine Reiswein-Brennerei, eine Reismühle sowie eine Töpferei. Dabei fällt auf, dass uns niemand wie sonst etwas verkaufen will, im Gegenteil: Von unserem Besuch wird kaum Notiz genommen. An jedem Haus des Dorfes stehen die Türen offen, jeder ist überall eingeladen. So lernen wir auch die Praxis eines Naturheilers kennen. Der Doktor ist damit beschäftigt, Häuflein mit verschiedenen Kräutern anzumischen. Für jedes Leiden gibt es eine andere Mischung. Nur der Doktor kennt die Zusammensetzung. Die Menschen glauben fest an diese Form der Heilkunst. Selbst unsere Gastgeberin, eine kluge und reflektierende Frau, betont, dass das richtige Häuflein in der richtigen Mischung selbst Krebs heilt.

 

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